Scheinen

Scheinen

Scheinen, verb. irreg. neutr. Imperf. ich schien; Mittelw. geschienen; Imperat. scheine. Es wird mit dem Hülfsworte haben abgewandelt, und bedeutet,

1. Ein helles bleibendes Licht von sich geben, oder in engerm Verstande, wegen seines hellen bleibenden Lichtes sichtbar seyn. In diesem Verstande sagt man, der Mond scheinet, wenn er mit hellem Lichte sichtbar ist; die Sonne kann vor dem Nebel nicht scheinen. Gott machte Lichter, daß sie schienen auf Erden, 1 Mos. 1, 15, 17. Die Sonne scheinet warm. Die Sonne schien durch das Glas. Das Mittelwort scheinend, ein scheinend Licht, Joh. 1, 35, ist in dieser Bedeutung im Hochdeutschen ungewöhnlich. Das ganze Zeitwort wird jetzt nicht mehr in dem Umfange gebraucht, in welchem es wohl ehedem üblich war. Von dem Feuer, von dem Blitze, von den Sternen, von einem Lichte wird es, einige gemeine Sprecharten ausgenommen, nicht mehr gesagt, ob man gleich das Hauptwort Schein noch von denselben gebraucht. Ehedem war es anders. In schinentemo Fiure, Ottfr. bey stammendem Feuer. Der Blitz scheinet vom Aufgang bis zum Niedergang, Matth. 24, 27, leuchten. Sein Blitz scheinet auf die Enden der Erden, Hiob 37, 3. Wohin auch die figürlichen Ausdrücke gehören, die Seligen werden helle scheinen, Offenb. 3, 7; meine Lehre scheinet ferne, Sir. 24, 44; für leuchten, glänzen.

2. Figürlich. 1) * Deutlich, erweislich werden; eine veraltete Bedeutung, für welche jetzt erscheinen, noch mehr aber erhollen üblich ist. Wie aus den Büchern scheint, Opitz. 2) Auf eine gewisse Art unmittelbar empfunden werden, ohne daß eben die Sache so sey, wie sie unmittelbar empfunden wird; ja oft wird dieses Scheinen oder diese unmittelbare Empfindung dem Seyn, der wahren Beschaffenheit, entgegen gesetzet. Es ist in dieser Bedeutung auf eine doppelte Art üblich; in beyden stehet die Person, wenn solche ausgedruckt wird, in der dritten Endung. (a) Als ein persönliches Zeitwort. Die Sonne scheinet uns klein zu seyn, und ist doch sehr groß. Ein anders ist etwas scheinen, und ein anders etwas seyn. Die Pastete scheint gut zu seyn. Gelehrt scheinen wollen. Auf daß sie vor den Menschen scheinen, daß sie fasten, Matth. 6, 16. Ein fromm scheinender Mensch. Jede Stunde scheint ihm eine traurige Winternacht, Geßn. Daß ich einige Augenblicke ganz fühllos geschienen habe, Gell. Die Freundschaft scheint mir in der That besser, ebend. In welcher persönlichen Form nur harte und unrichtige Verbindungen vermieden werden müssen. Z.B. Die Streitigkeiten scheinen noch so bald nicht beygelegt zu werden; für: es scheinet, daß die Streitigkeiten noch so bald nicht werden beygelegt werden. (b) als ein unpersönliches Zeitwort. Es scheinet, daß es regnen wolle, oder als wollte es regnen. Es scheinet, daß es nichts helfen werde, oder es werde nichts helfen, als wenn es nichts helfen werde, als werde es nichts helfen. Es scheinet mir nicht so. Wie es scheinet, so befindet er sich noch wohl.

Anm. In der ersten Bedeutung schon im Isidor, bey dem Kero, Ottfried u.s.f. scheinan, skinan, (von welcher letztern Form unser Imperfect und Mittelwort ist,) bey dem Ulphilas skeinan, im Nieders. schinen, im Engl. to shine, im Schwed. skina. Unser schön, Sonne, sehen, (im Schwed. ist skönja sehen,) schimmern, das Griech. σχƞμα, das Lat. Scintilla, das Ital. sembiare, sembrare, u. a. m. sind genau damit verwandt. Ehedem war es auch als ein Activum üblich, welches eigentlich sichtbar machen, hernach zeigen, weisen und beweisen bedeutete, in welchem Verstande es noch bey dem Ottfried und Willeram vorkommt. Das Isländ. skina bedeutet noch jetzt zeigen, und unser Schein, ein schriftliches Zeugniß, und bescheinigen, sind noch Überbleibsel davon; das letztere ist vermöge der Endung -igen, ein Intensivum von scheinen. Unser scheinen selbst ist nur eine, vermittelst der gewöhnlichen intensiven Endung -nen, abgeleitete Form von einem veralteten scheien, scheen, schien, welches ursprünglich eine Nachahmung einer schnellen zischenden Bewegung war, und wovon unter andern auch unser geschehen und seyn abstammen. Mit dieser Bedeutung ist die des Entstehens genau verwandt, daher das abgeleitete erscheinen auch gegenwärtig werden bedeutet. Der Gegensatz verscheinen ist noch im Niedersächsischen für vergehen, verschwinden üblich. Das Licht, der Glanz, ist in allen Sprachen eine Figur der schnellen leichten Bewegung, obgleich die ersten Erfinder der Sprachen wohl nicht gewußt haben, daß die Bewegung des Lichtes die schnelleste in der Natur ist. Daher stammet denn die Bedeutung des sichtbar werdens, und besonders vermittelst eines eigenen Lichtes, her, welche auch in unserm schön zum Grunde liegt. Unter den Landleuten Meißens ist noch eine sonst ungewöhnliche Bedeutung im Gange, nach welcher man von dem Getreide sagt, daß es scheine, wenn es vor der Zeit und ehe es noch kernet, zu Stroh wird, und alsdann leer ist. Ohne Zweifel gehöret es hier zu dem schon gedachten Niedersächsischen verscheinen, vergehen, verschwinden.


http://www.zeno.org/Adelung-1793. 1793–1801.

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