- Urtheil, das
Das Urtheil, des -es, plur. die -e, ein altes, in verschiedenen nahe verwandten Bedeutungen übliches Wort. 1. Der Ausspruch eines Richters über eine streitige Sache, wodurch sie entschieden wird, sowohl in bürgerlichen als peinlichen Sachen. Ein Urtheil fällen, ehedem finden. Das Urtheil sprechen. Das Urtheil über jemanden fällen. Das Todesurtheil sprechen. Der Richter spricht oder fället in peinlichen Sachen das Urtheil und der Landesherr bestätiget oder unterschreibet es. Nach Urtheil und Recht gestraft, hingerichtet werden. Das Urtheil an jemanden vollziehen. Urtheil wird im weitesten Verstande von allen Aussprüchen des Richters in rechtlichen Sachen gebraucht; in engerm Verstande unterscheidet man dieselben noch nach ihren Arten. Der Ausspruch des Richters in einer Streitsache wird oft auch der Spruch genannt. Ein Spruch oder Urtheil, welcher die Hauptsache entscheidet, heißt das Endurtheil, wenn es aber nur einen Nebenumstand entscheidet, ein Beyurtheil. Das Gutachten oder Informat-Urtheil, welches in manchen Fällen auch ein Bedenken heißt, ist bloß die außergerichtliche Äußerung seines Urtheiles über eine Rechtssache. Die letzte Sylbe dieses Wortes wird in dieser Bedeutung im gemeinen Leben sehr kurz ausgesprochen, als wenn es Urtel geschrieben wäre, welches ohne Zweifel von dem langen Gebrauche herrühret, und zugleich dem Satze in der Anmerkung, daß diese Bedeutung allem Ansehen nach, die erste ist, zur Bestätigung dienet. In einigen Gegenden ist es in dieser Bedeutung weiblichen Geschlechtes, die Urtheil. 2. In weiterer Bedeutung, ein jedes Gutachten, eine jede Meinung von der Beschaffenheit eines Dinges, die Erkenntniß von der Beschaffenheit eines Dinges und deren Äußerung. Ein Urtheil über etwas fällen. Sein Urtheil über eine Sache zurück halten. Jemanden um sein Urtheil fragen. Etwas jemandes Urtheile anheim stellen. Meinem Urtheile nach, ist es nicht rathsam. Nach meinem Urtheile, ist es unmöglich. Wo es eigentlich die auf die Verbindung der Umstände gegründete Meinung von der guten oder bösen Beschaffenheit eines Dinges bezeichnet. 3. Im weitesten Verstande ist dieses Wort in der Philosophie üblich, wo schon jede Verknüpfung oder Trennung zweyer Begriffe, die Vorstellung des Verhältnisses zweyer Begriffe, ein Urtheil genannt wird; z.B. das Eisen ist schwer, das Feuer ist nicht groß. Ein durch Worte ausgedrucktes Urtheil heißt alsdann ein Satz. Das Grundurtheil, Iudicium intuitiuum, welches man vermittelst der Erfahrung fället, zum Unterschiede von dem Nachurtheile, wozu man durch Schlüsse gelangt. 4. Ehedem wurde dieses Wort auch häufig von dem Vermögen der Seele zu urtheilen, d.i. das Verhältniß zweyer Begriffe zu erkennen, gebraucht, wofür doch jetzt Urtheilskraft und Beurtheilungskraft üblicher sind. Der ich mich stürz in Pein ohn Urtheil und Verstand, Opitz.
Wenn Urtheil und Verstand bey mir zu Rathe sitzen,
Opitz.
So sag ich, du brauchst recht dein Urtheil und Verstand,
Opitz.
Du bist in dem Alter, da die besten Reisegesellen, Wahl und Urtheil, mit dir ziehen,
Opitz.
Anm. Schon im Isidor und Ottfried Urdeil, bey dem Kero und Notker mit der Endsylbe de, Urteilida und Urteilda, im Nieders. Oordel, im Engl. Ordaal, und selbst im Böhmischen, wo es vermuthlich aus dem Deutschen entlehnet ist, Ortel. Unsere Sprachforscher, welche überhaupt sehr geneigt sind, in der Sylbe ur allerley Geheimnisse zu suchen, und darüber oft den leichtesten und natürlichsten Weg verfehlen, haben auch dieses Wort auf sehr verschiedene, und oft seltsame Art erkläret. Wachter führet die vornehmsten ältern Ableitungen an, wo man sie, wenn man will, nachlesen kann; er selbst sahe in diesem Worte nichts, wie Nacht und Dunkelheit. Ihre leitet das Schwedische ordela, urtheilen, vor or, ur, her, so fern es die Endschaft einer Sache bezeichnet, und von dem Schwed. dela, Engl. deal, streiten, und erkläret es durch, einen Streit endigen. Allein, am natürlichsten bleibt man bey der eigentlichen Bedeutung der Wörter stehen, und da ist urtheilen nichts anders als ertheilen, so fern nämlich er und ur hier so viel als ent bezeichnet, und mit entscheiden und dem Lat. discernere gleich bedeutend ist, indem in allen eine und eben dieselbe Figur herrscht. Discretio wird im mittlern Lateine häufig für Urtheil. Beurtheilung gebraucht, und Kero übersetzt es ausdrücklich durch Urteilida. In der alten Übersetzung einer Schrift des Isidor bedeutet das ähnliche Ursiita, von schleißen, spalten, theilen, gleichfalls ein Urtheil in der ersten gerichtlichen Bedeutung. Ein Urtheil in den beyden ersten und eigentlichen Bedeutungen ist doch nichts anders, als eine Theilung oder Scheidung streitiger Begriffe. S. auch das folgende. Von eben diesem Worte stammen auch die Ordalia der mittlern Zeiten her, welches gewisse gerichtliche Beweise waren, wobey jedesmahl ein unmittelbares Wunder angenommen wurde, daher man sie als Endurtheile Gottes ansahe, und sie Gottesurtheile, kürzer Urtheile und Lat. Ordalia nannte. Übrigens ist die Sylbe ur in diesem Worte und seinen Verwandten kurz, dagegen sie in allen übrigen Zusammensetzungen lang ist.
http://www.zeno.org/Adelung-1793. 1793–1801.