Urtheilen

Urtheilen

Urtheilen, verb. reg. act. & neutr. welches im letztern Falle das Hülfswort haben erfordert. Es bedeutet nach Maßgebung des vorigen Hauptwortes, 1. gerichtlich entscheiden, in einer streitigen Sache als Richter erkennen, wo es ehedem sehr häufig als ein Activum mit der vierten Endung der streitigen Sache gebraucht wurde. Noch sprechet ihr, der Herr urtheilet nicht recht, da ich doch einen jeglichen nach seinem Wesen urtheile, Ezech. 33, 20. Der seine Hand vom Unrechten kehrt, der zwischen den Leuten recht urtheilet, Kap. 18, 8. Sey unerschrocken, wenn du urtheilen sollst, Sir. 4, 9. Ottfried gebraucht es mehrmahls mit der vierten Endung für verurtheilen. Als ein Activum ist es für sich allein in dieser Bedeutung im Hochdeutschen völlig veraltet; man gebraucht es nur noch zuweilen absolute und als ein Neutrum, obgleich auch hier die Redensarten das Urtheil fällen, sprechen und so ferner, üblicher sind. 2. In weiterer Bedeutung urtheilet man, wenn man sich seiner Meinung von der Beschaffenheit einer Person oder Sache bewußt ist, oder selbige äußert; wo es ehedem auch als ein Activum mit der vierten Endung der Person oder Sache üblich war. Strafe dich vor selbst, ehe du andere urtheilest, Sir. 18, 21; d.i. ehe du sie beurtheilest, über sie urtheilest. Des Himmels Gestalt könnet ihr urtheilen, könnet ihr denn auch nicht die Zeichen dieser Zeit urtheilen? Matth. 16, 3. Wer bist du, der du einen andern urtheilest? Jac. 4, 11. 12. Auch hier ist es als ein Activum veraltet, indem dafür beurtheilen üblicher ist. Am häufigsten druckt man den Gegenstand mit den Vorwörtern von und über aus. Unparteyisch von der Sache zu urtheilen. Nach sich von andern urtheilen. Kenntest du ihn, so würdest du anders von ihm urtheilen. Warum sollte ich meine Freyheit lassen urtheilen von eines andern Gewissen, 1 Cor. 10, 29. Ich will nicht darüber urtheilen. Ich will andere darüber urtheilen lassen. Ingleichen absolute. Ich will nicht selbst urtheilen. Andere mögen urtheilen, ob es recht ist. 3. Im weitesten Verstande, der doch in der philosophischen Schreibart am üblichsten ist, urtheilet man, wenn man das Verhältniß zweyer Begriffe erkennet, und diese Erkenntniß äußert. Ich urtheile, wenn ich mir vorstelle, daß das Eisen glühend ist, oder daß es nicht glühend ist, weil ich alsdann die beyden Begriffe Eisen und glühend verbinde oder trenne. Stelle ich mir aber ein glühendes Eisen nur vor, so urtheile ich noch nicht, sondern ich habe nur einen bloßen Begriff davon.

So auch das Urtheilen für das ungewöhnliche Urtheilung.

Anmerk. Dieses sehr alte Wort lautet bey unsern ältesten Schriftstellern bald urdeilan, urteilan, bald aber auch ardeilan, irdeilan, irteilen, erteilen, in welcher letztern Gestalt es besonders bey den schwäbischen Dichtern üblich ist. Im Niedersächsischen lautet es ordelen, im Schwedischen ordela. Es kommt in der gerichtlichen Bedeutung des Richtens, Rechtsprechens, Entscheidens am frühesten vor. In dem alten Alemannischen Glaubensbekenntnisse bey dem Goldast heißet es; ich geloub in danan kunftig an dem jungesten Tag, ertailen vibe, lebend unt viber tot. Woraus zugleich erhellet, das urtheilen so viel als ertheilen ist, nicht zwar in der heutigen Bedeutung, sondern so fern er für ent, dis, stehet, ertheilen aber mit entscheiden, discernere, gleich bedeutend ist, welche beyden Wörter sich auf einerley Figur gründen. Von dem gerichtlichen Urtheile ward dieses Wort nachmahls auf die Erkenntniß des Verhältnisses einer Person oder Sache, und endlich auf die Erkenntniß des Verhältnisses zweyer Begriffe angewandt.


http://www.zeno.org/Adelung-1793. 1793–1801.

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